Ensemble New Babylon featuring Ingen Navn Trio in Bremen
Ins Tabakquartier für ein Konzert fahren, fühlt sich schlimmer an, als nach Hamburg für ein Konzert fahren – die Reise mag wohl etwas weniger beschwerlich sein, dafür kommt man am Ende in einer Gegend an, die auf definitive Weise und ohne dass irgendjemand ernsthaft an einer Antwort interessiert gewesen wäre, die Frage beantwortet, wie man der Überseestadt noch jeden letzten Rest an Seele rauben kann. Und dann hat noch nicht mal das Kartenlesegerät funktioniert …
Aber, zum erfreulichen Aspekt des Abends: Heute durfte ich Ingen Navn Trio und dem Ensemble New Babylon lauschen. Das erstere ist eine experimentelle Jazzband, das zweitere eine “Neue Musik”-Band, was ich mir von meinem musikkundigen Mithörer als eine Neuentwicklung der klassischen Musik habe erklären lassen, die von der Richtung Klassik dasselbe machen wie Free Jazzer. Also basically atonale improvisatorische Musik.
Das Spannende an Impromucke ist ja dreierlei:
a) Muss sich die Musik viel mehr auf den individuellen Klang der einzelnen Instrumente konzentrieren, da sich eine Angewiesenheit auf das Zusammenspiel der einzelnen Klänge logischerweise verbietet – weswegen Impromucke meiner Erfahrung nach dazu tendiert, Instrumente auf sehr unvorhergesehene und neue Art und Weisen zu benutzen. Das hat es mit experimenteller Musik gemein. Beispiele an diesem Abend: Die Mischung aus Kalebasse und Vase, die vom Perkussionisten vom Ensemble New Babylon mit seiner elektronischen Zahnbürste zum Schwingen gebracht wurde, die gründliche Bearbeitung der Klaviersaiten mit allerlei Instrumentarium vonseiten der Pianistin, die mikrofonunterstützte Verwandlung der atmosphärischen Fellschwingungen in elektronisch verzerrte wahrnehmbare Schallschwingungen durch den Schlagzeuger, die schallerzeugende, smartphoneunterstützte Tonabnehmermanipulation durch den Gitarristen.
b) Sind die Musiker ob des Fehlens einer von vor hinein feststehender Songstruktur viel mehr darauf angewiesen, aufeinander zu hören und auf die gegenseitigen Impulse auch zu reagieren. Beispiele an diesem Abend: die allseits gewetzten Köpfe ob der Aufmerksamkeitswechsel zwischen den verschiedenen Instrumenten, die merklichen Reaktionen auf die Entwicklungen des gemeinsamen Sounds, die Verstärkung der Ergebnisse der Klaviersaitenmanipulation durch die Flöte, das Zusammenspiel von Saxofon und Flöte, das Zusammenspiel von Percussion und Schlagzeug, das Einholen des übertönenden Rhythmus des Schlagzeugs durch die Pianistin.
c) Ist es einfach ein unverwechselbarer Moment, wenn aus dem anarchischen Zusammenspiel der einzelnen Instrumente auf einmal ein kohärentes ganzes wird. Beispiele an diesem Abend: Die zweimal, als der laute Klangteppich der Instrumente sich ergänzt hat und durch die Synthesizerklänge vor dem geistigen Auge in einen 70er-Jahre-LSD-Trip inklusive Brandlöcher auf dem Zelluloidschirm verwandelt wurden, die Aufnahme und Weitergabe des klaviersaitenmanipulationsseitig erzeugten, dystopieschlagwerksklangigen Rhythmus durch Schlagzeug, Gitarre und Synthesizer, der Saxofonriff, der einen unausgegorenen Schlagzeugrhythmus am Ende zu einem Ingen Navn Trio Song gemacht hat, dem sich der Rest der Musikerbagage eingeordnet hat.
Das Konzert war in zwei Teile geteilt, am Anfang hat das Ensemble gespielt und das Trio ist aus dem Publikum dazugestoßen, am Ende hat das Ensemble nach und nach ins Publikum gewechselt. Im zweiten Teil haben sie gemeinsam gespielt. Ingen Navn hat schöne Schuhe und schöne Ohrringe. Die Flöte ist zu sehr im Hintergrund verschwunden.
Es war spannend, die Verschmelzung der beiden Musikstile und auch das, wo sie sich voneinander doch noch abhoben, mitzubekommen. Am Ende macht den Unterschied meiner Wahrnehmung nach das Schlagwerk: Heißt es Schlagzeug und gibt den Songs ihr Rückgrat (Jazz) oder heißt es Percussion und eröffnet durch seine unterschiedslose Einordnung in den Rest der experimentellen Beliebigkeit Tür und Tor (Neue Musik oder Free Jazz oder wie auch immer). Auf jeden Fall: Hörts euch an!
Travelling to the Tabakquartier for a concert feels worse than travelling to Hamburg for a concert – the journey may be a little less arduous, but ultimately, you arrive in an area that, in a definitive way and without anyone being seriously interested in an answer, answers the question of how you can rob the Überseestadt of every last bit of soul. And then the card reader didn’t even work…
But now to the pleasant part of the evening: today I was able to listen to Ingen Navn Trio and Ensemble New Babylon. The former is an experimental jazz band, the latter a ‘Neue Musik’ band, which I had explained to me by my music-loving fellow passenger as a development in classical music that arrives from classical music in the same space as free jazz. So basically atonal improvisational music.
The exciting thing about improvisational music is threefold:
a) The music has to concentrate much more on the individual sound of each instrument, since reliance on the interplay of individual sounds is logically out of the question – which is why, in my experience, improvised music tends to use instruments in very unforeseen and new ways. This is what it has in common with experimental music. Examples from that evening: the mixture of calabash and vase, which was made to vibrate by the percussionist of the Ensemble New Babylon with his electronic toothbrush, the thorough treatment of the piano strings with all kinds of instruments by the pianist, the drummer’s microphone-assisted transformation of the atmospheric vibrations of the drum skin into electronically distorted audible sound vibrations, the guitarist’s sound-generating, smartphone-assisted pickup manipulation.
b) The musicians are much more dependent on each other to listen and respond to each other’s impulses due to the lack of a pre-established song structure. Examples from this evening: the always turning heads due to the change of attention between the different instruments, the noticeable reactions to the development of the common sound, the amplification of the results of the piano string manipulation by the flute, the interplay of saxophone and flute, the interplay of percussion and drums, the pianist neutralizing the overwhelming drumbeat.
c) It is simply a unique moment when the anarchic interplay of the individual instruments suddenly becomes a coherent whole. Examples from this evening: The two times when the loud soundscape of the instruments complemented each other and, through the synthesizer sounds, were transformed in front of the mind’s eye into a 70s LSD trip, complete with burn holes in the celluloid screen, the recording, and transmission of the manipulated, dystopian-sounding rhythm through drums, guitar and synthesiser, the saxophone riff that ultimately made an unfinished drum rhythm into an Ingen Navn trio song, which the rest of the musicians joined in with.
The concert was divided into two parts, at the beginning, the ensemble played, and the trio joined them from the audience, at the end, the ensemble gradually moved into the audience. In the second part, they played together. Ingen Navn has beautiful shoes and beautiful earrings. The flute has disappeared too much into the background.
It was exciting to witness the fusion of the two music styles and also where they still stood out from each other. In my opinion, the percussion makes the difference in the end: is it called drums and gives the songs their backbone (jazz) or is it called percussion and opens the floodgates to the rest of experimental arbitrariness (new music or free jazz or whatever). Also in this case, the name of the thing is either coarse and German, or refined and Latin. Anyway: listen to it!