Rewire in Den Haag
Nach den Prinzipien ihrer Musik gefragt, antwortete aya nach einer Nachdenkpause mit: „To know the rules and then break them.“ Auch wenn ich über die Regeln von Dubstep und Techno und House und was auch immer aya so in ihre Musik einbaut, wenig weiß, klingt ihre Musik doch sehr danach, als würden Regeln gebrochen. Und ihre Antwort ist auch insgesamt eine gute Beschreibung für die Art von Musik, die auf dem Rewire gespielt wird. Das Regelbrechen ist wohl selten so klar der Zweck, wie ihn aya angibt (auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob sie die Aussage nicht nach ein wenig Reflexion anpassen würde), sondern eine Folge davon, mit der Musik etwas auszudrücken oder schlicht etwas Neues in die Welt bringen zu wollen.
Zu hören war das z. B. bei meinem persönlichen Festivalhighlight Taupe, die mit Saxofon, Gitarre und Schlagzeug Musik machen, die sie zwar „No“, aber immerhin auch „Jazz“ beschreiben, wohl weil hier selten bis nie das klassische Anfang – Solo – Solo – Solo – Ende Schema von einem Jazzstück zu finden ist, aber sehr viel von der freien, gemeinschaftlichen instrumentellen Improvisation, die Jazz (auch) ausmacht. Das hier Gitarrensaiten mit einem Schlagzeugschlägel als Bogen bespielt und Schlagzeuge mit zwei Schlägeln pro Hand getroffen werden war der sichtbare Ausdruck davon – zu hören war es, wenn die Stücke nach wilden und chaotischen, minutenlangen Improvisationsteilen, die meine Beine zu mir bisher unbekannten Bewegungen veranlasst haben, vollkommen folgerichtig und passend wieder zu vorher etablierten Themen zurückkehrte, was mich vor meinem inneren Auge nach einem langen Marsch durch einen Gewittersturm endlich zu Hause ankommen ließ, und mir ein befreiendes Lachen entlockte.
Zu hören war es auch bei der Aufführung von Meara O’Reillys Hockets For Two Voices, vorgetragen von Mingjia Chen und Linnea Sablosky, bei der nach einer Technik aus dem 13. Jahrhundert eine Melodie auf zwei Stimmen aufgesplittet wird, die sich wie zwei Goldfische im Aquarium umschwimmen und durchkreuzen, und so ansonsten simplen Melodien eine Multitude von überraschenden Toneffekten entlocken.
Und schlussendlich will ich das Konzert von Colin Stetson in den Raum stellen, der mit seinem zirkulierenden Atem dem Rohrblatt seines Saxofons keine einzige Pause gönnt. Das sorgt nicht nur für mehr Töne pro Minute, sondern spiegelt sich auch in seiner Musik wider – der einzelne Ton ist hier nur Teil einer amorphen Masse von Tönen, die durch ihr Oszillieren darum die Melodien und Themen seiner Stücke hörbar machen. Dazu passend sein Wiegeschritt beim Spielen, der durch die Beleuchtung von hinten als Schatten auf die Konzertsaalwände verdoppelt wurde, und zusätzlich bei einem Stück durch eine Dauerschleife von Blättern im Wind verstärkt wurde.
Was mich zum nächsten Thema dieser Abhandlung zum Rewire bringt – zu Konzerten gehört nämlich nicht nur Musik, sondern auch das drumherum, und Festivals wie dieses machen es durch ihre schiere Masse an Konzerten möglich, dass sich viel mehr Köpfe als ansonsten mit diesen Aspekten auseinandersetzen und dabei Neues zutage bringen.
So geschehen z. B. beim Konzert von Use Knife, deren experimentelle elektronische Musik mit arabischen Gesängen einerseits meinen Glauben an die Livetauglichkeit von elektronischer Musik wiederhergestellt hat, andererseits aber auch perfekt untermalt war von drei Stoffbahnen, die alternativ knapp vor oder knapp hinter den Musikern hingen, und abwechselnd mal mit Visualisierungen von vorn, oder mit dem Schatten der Musiker von hinten bespielt wurden.
So auch bei der Aufführung von Maritime Rites von Alvin Curran auf dem See neben dem niederländischen Regierungssitz, welches durch die Aufführung in geschätzt zwanzig kleinen Booten ein anderweitig wohl okayes klassisches Stück in eine chaotische Tonwolke von sich je nach zufälliger Bewegungsrichtung der Boote frei miteinander kombinierenden Portionen von unterschiedlichsten Bläsern oder anderer Instrumente verwandelt hat. Nicht zuletzt Alvin Curran selbst, der, wenn er nicht damit überfordert war, die Musiker, die nahe genug an ihm dran waren zu dirigieren, einer überdimensionierten Muschel Töne entlockt hat.
Nicht zu vergessen auch die Aufführung von Cortex, in der die Kiana des Valle Performance Group die elektronische Musik von Tayhana und die Visualisierungen von Hamill Industries angeblich in eine Geschichte über die Entwicklung des Gehirns verwandelt haben, die aber offen gestanden einfach verdammt gut dabei aussahen, die Musik in Körperbewegungen zu verwandeln, und zu zeigen, welche Dynamik entstehen kann, wenn sich vier Körper in unterschiedlichen Zusammensetzungen mal miteinander, mal gegeneinander bewegen.
Und weil das Letztgenannte im engen Sinn des Wortes kein Konzert, sondern eine Performance ist, erlaubt es mir, wie von einem gescheiten Gestalter so eingerichtet, den Übergang auf das ganze Programm, das es hier neben der Musik noch so zu besuchen gibt. Auch wenn ich zugeben muss, dass ich wenig davon besucht habe, so hat es mich doch nicht weniger gefesselt …
Neben dem Gespräch mit aya gibt es da zu nennen den Workshop No Spectators at Chasms Door, der uns circa zehn Teilnehmenden innerhalb der losen Struktur einer palästinensischen Volksweise die Gelegenheit gab, in freiem Improvisationstheater einfach mal gemeinsam zu blödeln und der freien Eingebung freien Lauf zu lassen, und der Workshop Bones, Drone and Tones von NYX, der uns circa dreißig Teilnehmer eine von unseren dröhnenden Körpern erzeugte, ständig die Form wechselnde Klangwolke erzeugen ließ.
Konzerte und Workshops sind natürlich das Kernstück eines jeden Musikfestivals, doch würde meine Beschreibung hier enden, dann wäre sie unvollkommen. Diese Konzerte und Workshops ziehen nämlich eine Menge von Leuten an, die die Stadt für ein Wochenende in die ihre verwandeln. Natürlich hat man eine vielversprechende Chance, seinen Lieblingskünstler auch abseits der Bühne zu treffen, aber offen gestanden weiß ich damit nicht mehr anzufangen, als erneut meine aufrichtige Bewunderung zu zeigen. Spannender ist es, mit den Leuten im Publikum vor und nach den Konzerten zu sprechen – die Mutter aus Dublin, die mit ihrem Sohn angereist ist, aber verständlicherweise schon etwas früher als er Schluss machte. Das ältere Pärchen aus Hamburg, das sich über den Stellenwert und die Wichtigkeit von Gesangselementen niemals einigen kann, was aber auch nicht wichtig ist. Der Musikjournalist, der erst sehr spät ins Game gekommen ist, weil sein alter Job weggebrochen ist und er Kohle brauchte. Die Niederländerin, die vorher noch nie etwas über Musik geschrieben, aber bei einem Projekt des Festivals einen Slot für einen Bericht über eine Band zugelost bekommen hat. Pläne zu, und Berichte von Konzerten wurden ausgetauscht, Unterschiede zwischen verschiedenen Synthesizern dargestellt, Eindrücke und Interpretationen geteilt.
Das Rewire ist eine gute Sache. 10/10 would do it again.
P.S.: Ein Aspekt von Festivals, den ich nicht anders untergebracht habe: Konzerte in Kirchen. Seriously, geile Atmosphäre.
P.P.S.: Der Unterschied zum Le Guess Who ist der: Das LGW hat ein Stadtfestival als Begleitprogramm und im Gegensatz zum Rewire mehr Fokus auf Musik aus allen Teilen der Welt, weniger auf elektronischer Musik. Und – das ist wohl der Aspekt, der es mir sympathischer macht – weniger zu coole Menschen.
When asked about the principles of her music, aya replied after a moment’s thought: ‘To know the rules and then break them.’ Even though I know little about the rules of dubstep, techno, house, and whatever else aya incorporates into her music, her music sounds very much like rules being broken. And her answer is also a good overall description of the kind of music played on Rewire. The breaking of rules is rarely as clearly the purpose as aya states it (even though I’m not sure if she wouldn’t adjust the statement after a little reflection), but rather a consequence of wanting to express something with music or simply bring something new into the world.
This could be heard, for example, at my personal festival highlight, Taupe, who make music with saxophone, guitar, and drums, which they describe as ‘No’, but also as ‘Jazz’, probably because the classic beginning — solo — solo — solo — end scheme of a jazz piece is rarely or never found here, but a lot of the free, collaborative instrumental improvisation that (also) makes up jazz is. The fact that guitar strings were played with a drumstick as a bow and drums were hit with two sticks per hand was the visible expression of this—the audible expression was when the pieces, after wild and chaotic improvisation parts lasting several minutes, which caused my legs to move in ways previously unknown to me, returned to previously established themes in a completely logical and fitting way, which, in my mind’s eye, finally made me feel like I had arrived home after a long march through a thunderstorm and elicited a liberating laugh from me.
It could also be heard in the performance of Meara O’Reilly’s Hockets For Two Voices, performed by Mingjia Chen and Linnea Sablosky, in which a melody is split between two voices using a technique from the 13th century. The voices swim around each other like two goldfish in an aquarium, creating a multitude of surprising sound effects from otherwise simple melodies.
And finally, I want to mention the concert by Colin Stetson, who, with his circulating breath, doesn’t give the reed of his saxophone a single break. This not only results in more notes per minute but is also reflected in his music—the individual note here is only part of an amorphous mass of notes, which make the melodies and themes of his pieces audible through their oscillation. His swaying steps while playing fit perfectly with this, doubled by the lighting from behind projecting his swaying shadow on the concert hall walls, reinforced by a video loop of leaves in the wind during one piece.
Which brings me to the next topic of this essay on Rewire—because concerts are not just about the music, but also the trappings, and festivals like this one, with their sheer number of concerts, make it possible for many more people than would otherwise be the case to deal with these aspects and bring new ideas to light.
This is what happened, for example, at the Use Knife concert. On the one hand, their experimental electronic music with Arabic vocals restored my faith in the live suitability of electronic music, but on the other hand, it was also perfectly accompanied by three fabric panels that hung alternately just in front of or just behind the musicians and were sometimes projected with visualizations from the front and sometimes with the musicians’ shadows from behind.
This was also the case with the performance of Maritime Rites by Alvin Curran on the lake next to the Dutch government headquarters. The performance, which featured an estimated twenty small boats, transformed an otherwise perfectly acceptable classical piece into a chaotic cloud of sound, with portions of the most diverse brass and other instruments combining freely depending on the random direction of movement of the boats. Not the least Alvin Curran himself, who, when not desperately trying to conduct the musicians who were close enough to him, was coaxing sounds from an oversized shell.
Not to forget the performance of Cortex, in which the Kiana of the Valle Performance Group supposedly transformed the electronic music of Tayhana and the visualizations of Hamill Industries into a story about the development of the brain, but who, to be honest, simply looked damn good while transforming the music into body movements and showing the dynamics that can arise when four bodies in different compositions move alternately in unison and against each other.
And because the latter, in the narrow sense of the word, is not a concert but a performance, it allows me, as if arranged by a clever designer, to make the transition to the entire program that can be visited here alongside the music. Even though I have to admit that I visited little of it, it still captivated me no less…
Besides the conversation with aya, there was the workshop No Spectators at Chasm’s Door, which gave us about ten participants within the loose structure of a Palestinian folk song the opportunity to just fool around together in free improvisation theater and to let free inspiration run free, and the workshop Bones, Drone, and Tones by NYX, which allowed us, the approximately thirty participants, to create a constantly changing soundscape generated by our droning bodies.
Concerts and workshops are, of course, the centerpiece of any music festival, but if my description ended there, it would be incomplete. These concerts and workshops attract numerous people who transform the city into their own for a weekend. Of course, it’s a promising opportunity to meet your favorite artist off-stage, but to be honest, I don’t know what to do with it other than to show my sincere admiration again. It’s more exciting to talk to the people in the audience before and after the concerts—the mother from Dublin who came with her son but understandably left a little earlier than he did. The older couple from Hamburg, who can never agree on the significance and importance of vocal elements, but that’s not critical either. The music journalist who only got into the game very late because his old job was cut, and he needed money. The Dutch woman, who had never written about music before, but was assigned a slot for a report about a band as part of a festival project. Plans were compared, concert reviews were exchanged, the differences between various synthesizers were explained, and impressions and interpretations were shared.
Rewire is a good thing. 10/10 would do it again.
P.S.: One aspect of festivals that I couldn’t fit in anywhere else: concerts in churches. Seriously, awesome atmosphere.
P.P.S.: The difference between Rewire and Le Guess Who is this: LGW has a city festival as an accompanying program and, in contrast to Rewire, focuses more on music from all parts of the world and less on electronic music. And—this is probably the aspect that makes it more appealing to me—less too cool people.