İstanbul ist eine wundervolle Stadt mit vielen beeindruckenden alten Gemäuern, schönen Panoramen und einem reichhaltigen kulinarischen Angebot, doch ich muss zugeben, dass meine vorfreudigen Gedanken sich vor allem um ein Konzerterlebnis in dieser ein großes Stück weit stärker von religiöser Frommheit bestimmten Kultur drehten als um den ganzen Rest. Weswegen ich mich nach kurzer Onlinerecherche zum Kauf von Tickets für das Machine Girl-Konzert im Blind entschied. Zuerst war ich angesichts des middling Pitchforkreviews noch etwas zurückhaltend, doch da der Hauptvorwurf dort die fehlende Weiterentwicklung war (was ja über die Musik an sich nichts aussagt) und Youtube vollen Sängereinsatz zeigte, war ich überzeugt.

Blind

Es ging also am Freitag eine Stunde vor Beginn (man will ja schließlich die Räumlichkeiten begutachten und sich die Möglichkeit der Kontaktaufnahme mit den Einheimischen offenhalten) in die kleine Konzerthalle nicht weit nördlich des Galataturms, mitten in der westlichsten Fortgehmeile von Istanbul nördlich des Goldenen Horns, und der einzige Unterschied zu jedem anderen Konzerterlebnis in unseren nördlicheren Breiten war die etwas andere Morphologie der Besucher, und die Art des Einlasses – hier wurden keine QR-Codes gescannt, sondern der Name mit der Excel-Tabelle abgeglichen, was einem ein wenig VIP-Gefühl gab (gezahlt hab’ ich natürlich trotzdem - 30 Tacken sind auch eher deutsche Preise) sowie der UV-Stempel als Belohnung für das Auftauchen in der Liste. Dazu habe ich gemixte Gefühle – man kann dann an der Hand das Frönen des Hedonismus die nächsten Tage nicht ablesen, was an Werktagen sicher seine Berechtigung hat – auf der anderen Hand sind Stempelmarken für mich das, was Narben für Skateboarder sind – hart erkämpfte Abzeichen, auf die man Stolz ist.

Zur Kontaktaufnahme mit den Locals kam es leider nicht, dafür waren es zu wenig Bier, um das Fremdkörpergefühl aufzuwiegen, und so nutzte ich die Stunde, um diesen Umstand für drei Euro die Flasche aus der Welt zu trinken, während ich die Leute betrachtete, die mir die Liquid Courage näher bringen sollte. Man sah kurze Röcke, ausgefallene Outfits, Bierflaschen in Händen, kurz, alles, was man in Deutschland auch sehen würde. Was man nicht sah, waren Kopftücher – was angesichts der Menge davon auf den Straßen etwas verwunderte. Doch eine kulturelle Veranstaltung wie diese zog wohl eher die säkularen Türken an, die, die hinter İmamoğlu standen, statt hinter Erdoğan. Nichtsdestotrotz zeigte dieses Missverhältnis die Spannung auf, die diese Republik wohl seit Atatürk beschäftigt, zwischen ländlicher Subsistenzarmut mit dazugehöriger religiöser Frommheit und dem Projekt einer westlichen Industriegesellschaft samt dazugehörigem Liberalismus der Sitten.

Frozen Clouds

Solcherlei tiefschürfende Gedanken fanden (glücklicherweise?) im Auftritt der (heimischen) Vorband Frozen Clouds ihr jähes Ende, mit ihrem Punksound und dem moody Sänger ein guter Pick als Aperitif auf den Hauptgang. Das Publikum war auch gut dabei, einige Liedtexte wurden inbrünstig mitgesungen, der Inhalt blieb mir meiner Ignoranz geschuldet verborgen. Auch zu einem ersten Moshpit kam es, doch wie so viel zu oft machte ein muskelbepackter Jüngling sein Sendungsbewusstsein geltend und die ganze Angelegenheit unaushaltbar – so musste der Sänger seine Partizipationsversuche leider immer wieder allzu bald abbrechen.

Balatro

Einen (unsäglichen) Trend startete jemand, der mitten unter dem Konzert sein Handy rausholte und Balatro (abseits von Konzerten – große Empfehlung!) zu spielen anfing. Es brauchte eine Weile, doch irgendwann bemerkte die Menge diese Demonstration des Desinteresses und startete die unausbleibliche Imitation, sodass man das zweifelhafte Vergnügen der visuellen Teilnahme an allerlei Spielsessions machen durfte – unter anderem war Slay The Spire (ebenso) im Angebot.

Slay The Spire

Ob das Gehabe nun der Darstellung der eigenen Superiorität mithilfe der zur Schau gestellten Nichtinteressiertheit diente oder den Brauch des Endlosfilmens zwecks späterer Darstellung des eigenen eventvollen Lebens auf ironische Art brechen wollte, auf jeden Fall brachte es den Ritus der Darstellung der eigenen Erfolgspersönlichkeit, der bei Musik als Fenster in das Innenleben bedauerlicherweise nie sehr fern ist, ins Bewusstsein und fügte so diesem Abend eine der wenigen bitteren Noten hinzu.

Irgendwann fand die Vorband zu ihrem Ende, und ich wieder meinen Platz an der Wand gelehnt. Als sich eine Frau neben mich lehnte, beschloss ich, von den drei Bieren und dem Pogo beschwingt, dies als Zeichen der Bereitschaft zur Kontaktaufnahme zu deuten, und startete ein Gespräch. Nachdem Konzerterfahrungen ausgetauscht, gemeinsame Musikvorlieben ausgelotet, viel freudiges Lachen von den Lippen gelassen und der eine oder andere tiefe Blick in leuchtende Augen erhascht wurde, wagte ich angesichts der Beschränktheit der Zeit den nächsten Schritt und fragte um einen Kuss. Dieser wurde mir gewährt, und so verbrachte ich den Rest der viel zu kurzen Pause mit dem großteils glückenden Versuch, den beträchtlichen Größenunterschied mit aushaltbarer Körperhaltung so zu überbrücken, dass der Geist im Empfinden der Weichheit der Lippen, dem erforschenden Zusammenspiel der Zungen und dem Erfühlen fremder Körperpartien aufgehen konnte.

Machine Girl

Schließlich betrat Machine Girl die Bühne, und dem Sog des sich fast sofort auftuenden Moshpits konnte ich nicht widerstehen. Ich war schließlich für das Konzert hier, auch wenn es lohnende Alternativen gab. Meinen Wunsch nach nachkonzertlicher Kontinuation äußernd, bewegte ich mich Richtung Hexenkessel. Und was es für einer war. Die elektronische Musik sowie das liveeingespielte Schlagzeug dienten hier nur in zweiter Linie der Rhythmus- und Melodieanreicherung, sondern vor allem, unterstützt von ständigen, harten Rhythmus- und Melodiewechseln und schrillen Soundeffekten, gemixt mit der mehr schreienden als singenden Stimme, der Evokation eines ausgelieferten, hilflos wütenden Geisteszustandes. Wenn es eine Kritik an dieser Musik von meiner Seite gibt, dann die, dass sie zu wenig Rückzugs-, und Erholungsmöglichkeiten bietet – und so war das Pogen neben den üblichen Unterbrechungen zur Wiederaufrichtung gefallener Mittänzer sowie dem Hochhalten verlorener Gegenstände zwecks Wiedervereinigung mit dem Besitzer auch unterbrochen durch Phasen der absoluten Erschöpftheit des Publikums. Eine solche nutzte ich, um nach meiner neuen Bekanntschaft zu suchen, doch an ihrer Stelle fand ich eine andere an der alten Stelle. War das das Ende dieser Bekanntschaft? Der Traurigkeit ob dieser Aussicht keinen Halt gebend, stürzte ich mich zurück ins Getümmel.

Das ging mit handfester Unterstützung des Sängers auch weiter, die schiere Anzahl der Tänzer neutralisierte auch den energiemäßigen Überschwang des Muskelshirtträgers, und so nutzte ich den einen etwas langsameren Song zur Erholung mittels Suche nach der Verlorenen, die ich auch nahe der Bar wieder fand. Ich war nicht sicher, ob der Ortswechsel den Willen zur Distanz aufzeigte, wurde aber angesichts der freudigen Reaktion über meine vorsichtige Annäherung eines im wahrsten Sinne des Wortes Besseren belehrt. Nachdem unsere Wiedervereinigung gefeiert und ihr durch Abgabe ihrer Handtasche an der Garderobe unbefriedigte Wasserbedarf befriedigt wurde, nutzten wir den langsamen Song für enges Aneinandertanzen sowie einen halbwegs glückenden Versuch, auch dem wiederanfangenden Elektropunk gemeinsam Körperlichkeit zu schenken, bis der Moshpit wieder seinen Sirenengesang anstimmte.

Machine Girl

Während der dritten Moshpitrunde, wohl unterstützt von der einsetzenden Beinmüdigkeit und der leicht abklingenden Verlorenheit in der Musik, machte sich ein Gedanke bemerkbar, der mir in letzter Zeit beim Pogen immer öfter in den Geist trat – dass meine Mittänzer mir dabei eigentlich nur durch ihre kinetische Energie ins Bewusstsein traten, während Augen und Aufmerksamkeit auf die Band gerichtet waren. Diese Tanzart, die wie keine andere doch eine Gemeinsamkeit der Tanzenden ins Leben rufen sollte, diente mir nur als Modifikation des Betrachtens. Also bemühte ich mich mit wechselndem Erfolg darum, den Fokus auf diese sich verknäuelnde Menschenmenge zu richten, und wurde mit dem Gefühl der bewussten Teilnahme an der Gemeinschaft der Tanzenden belohnt. Es war, wie in einer niederländischen Innenstadt endlich den Blick von den aufmerksamkeitsheischenden Ladenzeilen auf die darüber liegende Architektur zu richten und sich darüber bewusst zu werden, dass man sich nicht nur in einer Freilufteinkaufspassage befindet, sondern in einer Stadt.

Nach dem Konzert mussten wir beide auf die Toilette, am Rückweg fingen mich zwei junge Istanbuler ab und berichteten mir, dass es ihre erste Konzerterfahrung war und sie die Energie auch dank meines Einsatzes sehr überzeugend fanden. Ein paar ausgetauschte Worte brachten uns nach draußen in die wilde Menschenmenge im Fortgehviertel, und auch wenn ich diesen Kontakt gerne weiterverfolgt hätte, wollte ich doch zurück, um meine vorherige Konzertbekanntschaft nicht ihrem viel zu frühen Ende zukommen zu lassen.

In İstanbul lässt es sich aushalten.

Hund