Mein Leben ist ja oft ziemlich durchgeplant und getaktet, aber mitunter klopft Kismet an die Tür und legt ein goldenes Ei in das willige Substrat meiner Aspirationen. So geschehen diesen Dienstag in Hamburg bei der Finkenwerder Landungsbrücke, an der ich durch Zufall dem ältesten Hamburger Vierstimmenmännerchor von Deutschland beim Proben zuhorchen durfte, und über die Aufregung glatt meinen Rucksack vergessen habe. Der musste dann am Donnerstag zurückgeholt werden, und wenn dann zufällig noch die Abendbeschäftigung wegbricht, bleibt man doch da und hört sich Endless Wellness (das letzte Mal gesehen beim Reeperbahnfestival) an, für die man eigentlich Tickets am nächsten Abend in Hannover gekauft hat (wegen der sonstigen Abendbeschäftigung). So kommt es dann, dass man dasselbe Konzert zweimal hintereinander bewundern darf.

Endless Wellness Hamburg

Erfahrung macht zwar nicht klug, sonst gäbe es den Kapitalismus nicht mehr – aber sie hilft einem zumindest dabei, in der Phänomenologie der ganzen Scheiße zwischen dem wesentlichen und dem bloß okkasionellen zu unterscheiden. So hatten die Bandmitglieder wechselnde Outfits und Frisuren zwischen den Konzerten, dieser eine zentrale Geigenzug klang in Hamburg schrecklich und in Hannover wunderbar, das Publikum war in Hannover ein wenig ausgedünnter und älter, doch diese Verbindung zwischen Band und Publikum über die Texte, merkbar an den leisen Stellen, in denen das kollektive Mitgesumme und -gesäusel den Sänger locker übertönten, blieb gleich.

Dass man sich nicht aufgeben will, man sei ja keine Postkarte, das bewegt Leute, deren Großhirnrinde schon mal mit der sehr realen Möglichkeit beschäftigt war, selbstbestimmt den letzten Abschied von all den Schöne Dinge zu nehmen.

Wer sich in die Identifikation des Sängers mit dem häufigen Checken des Herzschlags als Anzeichen von Hypersensibilität, angeregt durch die Psychologie-Heute-Lektüre, hineindenken kann, der hat sich wohl schon öfter mal selbst die Frage gestellt, ob der Fakt, dass man immerzu die Hand im Gesicht hat, wohl daran liegt, dass alle anderen einen Schaden haben, oder vielleicht nicht doch man selbst.

Facepalm

Nur wer wahlweise zu viel Angst vor oder Hass auf sich hat, oder sich am Ende darüber zu sehr selbst leidtut, braucht den Hinweis, dass immerhin einmal im Jahr Frühling ist, und man dazwischen ja durchaus auch einmal Achterbahn fahren könnte, gemixt mit der Aufforderung Hab nicht so….

Wem ob der Erkenntnis, dass man jetzt endlich bezüglich des eigenen Zugehörigkeitsortes die Ignoranz selbstbestimmt überwunden hat, ein Donnerwetterblitz von den Lippen löst, der hat sich in seinem Leben wohl lange nicht heimisch gefühlt.

Endless Wellness Hannover

Für einen Song hat sich die Bassistin die Gitarre geschnappt und die männliche Aufmerksamkeitsfalle von der Bühne verscheucht, um uns die zweite / dritte Darbietung (die Berliner kriegten die Erste, da sage noch mal jemand Perlen vor die Säue …) ihres brandneuen Songs Plantanen vorzuspielen, der die Aufmerksamkeit von den befreienden und energetischen Seiten des Außenseitertums auf die traurigen und beschwerlichen lenkte, mit einer Stimme, wie dafür geschaffen, Erkenntnissen der Güteklasse „Erwachsensein ist auch so eine Lüge, auf die wir uns geeinigt haben“ die geteilte Existenz zu schenken. Vom neuen Liedermaterial war es das Beste, neben einem typischeren in voller Besetzung über das singerliche Großwerden in der Provinz, wo durchaus auch die Fische im Fluss, der wahlweise Felder voneinander, oder sich selbst von der biederen Außenwelt trennt, gelegentlich alle Farben haben, wenn nur mal das Licht richtig fällt. Es gab noch zwei andere, die entweder zu um die Ecke gedacht, abstrakt für mich waren, oder einfach inhaltslos, am schlimmsten war eins über eine schwarze Katze …

Gefühlt war in Hannover die größere Identifikation zwischen Publikum und Band, aber viel hat es sich nicht gegeben. Selten habe ich mich so 100 % als Zielpublikum einer Band gefühlt, und in Gesprächen mit älteren und mittelalten Pärchen, studierenden Bandbesitzern sowie geschlechtsneutralen Wuschelblauhaaren schimmerte eine Andeutung von Perspektivähnlichkeit durch.

Alicia Edelweiss Hamburg

Die Vorband hat Alicia Edelweiss gemacht, die ein wunderschönes Goldkleid, einen Hang zu musikbetonenden Körperzuckungen, und ein wundervolles Akkordeon mitgebracht hat. Die Texte gingen von super bis Meh, am besten war die Stelle mit dem hallenden, einen Technosong imitierenden Akkordeon, am schlimmsten der unpassende Gesang zu spärlichem Synthesizer über das Scheitern des eigenen Männerideals an der Wirklichkeit. Als eine Art Zugabe spielte sie am Ende noch mal zur allgemeinen Erheiterung das Akkordeon, während die Nase einem Hula-Hoop-Reifen die Ehre gab.

Alicia Edelweiss Hannover

Die Bilder gibts jetzt alle doppelt, erst Hamburg, dann Hannover.

P.S.: Danke dafür, in Hannover das Zugaberitual durch Kurzzeitverstecken hinter den Instrumenten ad absurdum zu führen!

P.P.S.: Danke für Socken als Merch! Das Design hat zwar großes Potenzial nach oben, aber der Grenznutzen von ein Paar Socken ersetzten, die schon zur Hälfte aus Löchern bestehen, schlägt auf jeden Fall den vom 25. überflüssigen T-Shirt.